Günther A. Buchwald
Ehrenfilmpreisträger 2021
Stummfilmmusiker
Dirigent, Komponist, Pianist und Violinist
Der Dirigent, Komponist, Pianist und Violinist Günter A. Buchwald (*1952) aus Freiburg gehört zu den eher stillen Stars im Südwesten, der ein weltweit gefragter Stummfilmmusiker ist und in Zusammenarbeit mit internationalen Filmarchiven das Erbe der frühen Filmgeschichte rettet, bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich macht.
Als Solist, mit der von ihm gegründeten Silent Movie Music Company oder großen Orchestern ist der Mitbegründer der Stummfilm-Renaissance seit 1978 ein geschätzter Interpret auf den großen Stummfilmfestivals der Welt. Aus San Francisco, Kyoto, Tampere, Bristol, Zürich oder Wien rufen die Veranstalter in Freiburg an, um Buchwald für große Silent-Movie-Events zu gewinnen. Er schreibt ebenso für restaurierte stumme Klassiker der Universal Studios in Hollywood die Musik oder spielt vor großem Publikum die noch erhaltenen Originalkompositionen. Gastspiele in kleinen Filmtheatern im Schwarzwald gehören ebenso zu seinen Herzensprojekten wie etwa die Uraufführung des ‚Golem‘ im Konzerthaus Wien mit Giora Feidmann und dem Aditti Streichquartett.
Im Rahmen der 22. Filmschau Baden-Württemberg 2016 steuerte Buchwald gemeinsam mit dem Schlagzeuger Frank Bockius die Live-Musik für die Deutschlandpremiere des restaurierten Klassikers ‚The Last Warning‘ aus dem Jahr 1929 bei. Universal in Hollywood favorisierte den Freiburger für diese einmalige Premiere im Carl-Laemmle-Jubiläumsjahr. Im Rahmen der musealen Filmarbeit gibt es auch Dank Günter A. Buchwald eine lebendige Pflege des Stummfilms. Mehr als 3.000 filmische Raritäten umfasst sein Repertoire. Der Stummfilmmusiker ist bestens vernetzt mit Archivaren und Rechteinhabern, um die alten Filme wieder ins Kino zu bringen und lebendig zu machen. „Momentan befinden wir uns in einer sehr wichtigen Phase, in der die alten Stummfilmschätze restauriert und digitalisiert werden. Manche Filme sind unwiederbringlich verloren, nur ihre Titel sind noch bekannt“, gibt er zu bedenken. Wenn sich Filmarchive und Stummfilmmusiker nicht gegenseitig animieren würden, wäre mancher Film nicht restauriert worden. Denn die Musiker schaffen eine Öffentlichkeit, um diese Filme einem größeren Publikum bekannt zu machen. Eines, so gestand er bei der Premiere in Stuttgart, würde ihn wirklich interessieren, ob es irgendwo von Carl Laemmles ‘Der Glöckner von Notre Dame’ noch ein vollständiges Original der Notenblätter gibt.
Günter A.Buchwald war das große Glück vergönnt, noch vielen Zeugen aus der Stummfilmzeit zu begegnen. Auf der Berlinale 1995, wo er in der Retrospektive ‘100 Jahre Kino’ einen Stummfilm von Buster Keaton begleitete, schüttelte ihm hinterher Eleonore Keaton, die Witwe des unvergessenen Stummfilmstars, die Hände. Buchwald traf Charly Chaplins Kinder, Jean Darlin, das kleine Mädchen mit den weißen Locken aus ‘Kleine Strolche’ oder Jackie Coogan, Chaplins Kopartner in The Kid’.
Sein Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ist und bleibt seine Geburtsstadt Freiburg. Buchwald ist seit 2007 ständiger Gastdirigent des Freiburger Philharmonischen Orchesters, lehrt Musikpädagogik am Jazzcampus der Schweizer Hochschule für Musik Basel und ist Gastdozent für Filmmusik an den Universitäten Zürich und Freiburg. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem Reinhold-Schneider-Kulturpreis der Stadt Freiburg, der Goldenen Filmspule der Kommunalen Kinos des Allgäus und dem Prix Européens der Regiostiftung Oberrhein.
Die Musik darf nicht lauter sein als der stumme Film
Ehrenpreisträger Günter A. Buchwald im Gespräch mit Hans-Peter Jahn für den Katalog zur 27. Filmschau Baden-Württemberg 2021
Mit dem Stummfilmkonzert `Casanova´ begeistert Günter A. Buchwald das Publikum zuletzt in Frankreich und Italien (Pordenone). Weitere Aufführungen sind auch in Deutschland geplant. Der Kritiker des Pariser Le Figaro stimmte Lobeshymnen an auf das Konzert mit dem L’Orchestre National de Lyon unter Buchwalds Leitung: „Von Anfang an hat man das Gefühl, dass man den Film ‚Casanova‘ nie wieder ohne Ihre Musik sehen könnte. Ich fühle und hoffe, dass Sie für immer zusammengehören.“ Am Beispiel des Silent-Movie-Blockbusters ‚Casanova‘ nähern wir uns dem Stummfilmmusiker Günter A. Buchwald und seiner Arbeit.
Viele Stationen führten Sie zu ‚Casanova‘. Wie kam es dazu?
Günter A. Buchwald: „Eigentlich beschäftige ich mich schon seit zehn Jahren mit dem 1927 in Frankreich produzierten Stummfilm ‚Casanove‘ von Alexander Wolkow. Die teils handkolorierte Tragikomödie wurde schon einmal 1989 dank des Engagements der Cinémathèque Francaise restauriert – leider in der falschen Vorführgeschwindigkeit – und vom bedeutenden Tonfilmkomponisten Georges Delerue erstmals vertont. Es war seine erste Stummfilmvertonung. Meines Erachtens ist das eingesetzte Ensemble viel zu klein für diesen Film und von der musikalischen Ausgestaltung sehr klischeehaft. 2011 fragte mich ein Freund aus Bristol, ob ich für seinen Lieblingsfilm ‚Casanova‘ eine neue Musik komponieren möchte. Nun liegt seit 2016 eine digitalisierte restaurierte Filmfassung vor, wieder von der Cinémathèque Française initiiert und diesmal in der richtigen Vorführgeschwindigkeit. Das Meisterwerk dauert jetzt etwas länger, in der 1927er-Fassung 133 Minuten, jetzt sind es 160 Minuten. Es ist eine sensationelle Qualität.“
2016 mussten die Restauratoren den Film retten.
Günter A. Buchwald: „Ja, das Original-Nitromaterial zerfällt immer mehr und es gibt Kopien mit unterschiedlichen Teilen, die in abweichenden Reihenfolgen zusammengefügt wurden. Diese müssen künstlerisch rekonstruiert werden. Das Material wird gesichert, digital wird die Schärfe hergestellt. Langfristig müssen die Filme wieder auf Nitromaterial übertragen werden; Zelluloid hält 100 Jahre, das weiß man, bei digital weiß man es nicht. Das Ganze ist natürlich eine kulturpolitische Frage: Wieviel Geld steht den Archiven, die weltweit kooperativ zusammenarbeiten, zur Verfügung für Digitalisierung beziehungsweise erneute Übertragung auf Celluloid. Und man findet doch tatsächlich immer noch altes Nitromaterial. Meine 3.500 Filme im Repertoire scheinen wenig im Vergleich, was aktuell zur Verfügung steht.“
Zurück zu ‚Casanova‘. 2016 kamen auch Sie ins Spiel.
Günter A. Buchwald: „Genau, damals wurde in Freiburg ein Festival geplant, das leider nie stattfand. Ursprünglich wollte ich schon dort den digitalisierten ‚Casanova‘ mit neuer Musik vorstellen. Dich schickt der Himmel, sagten die Restauratoren in Paris, als ich anrief und eine Kopie anforderte, damit ich für die digitalisierte Fassung eine neue Musik schreiben kann. Die Restauratoren konnten mit Delerues Musik nichts anfangen. So wurde eine Kooperation besiegelt.“
War von Anfang an klar, dass es eine Komposition für ein großes Orchester wird?
Günter A. Buchwald: „Ja, seit 2007 veranstalte ich mit dem Philharmonischen Orchester in Freiburg pro Saison ein Stummfilmkonzert und habe schon zwei Kompositionen zu ‚Faust‘ und ‚Nosferatu‘ beigesteuert. Es war also klar, dass ich eine Komposition für 55 Musiker, also ein klassisches Opernorchester schreibe. Für diesen prunkvollen Kostüm- und Ausstattungsfilm, der 1927 mit einem Massenstart in die Filmtheater kam und mit internationalen Stars wie dem ‚Metropolis‘-Bösewicht Ivan Mosjoukine und Jenny Jugo aus Deutschland besetzt ist, eine neue Musik zu komponieren, war für mich eine große Herausforderung. Es ist ja ein historisches Kolossalwerk, für das mit Geld aus Deutschland die damals besten Autoren, Ausstatter und Kostümbilder verpflichtet wurden. Die Handlung spielt in Venedig, St. Petersburg, Österreich, alles Orte mit großen Schauwerten. Das verträgt keine banale Musik. Ich entschied mich gegen Klavier und Elektronik. Dafür kommen ein barockes Cembalo und eine lokal bedingte Mandoline zum Einsatz. Die Mandoline wird für eine Szene in Venedig gespielt; da ist im Bild ein ganzes Mandolinenorchester zu sehen.“
Mit welchen Herausforderungen konfrontierte Sie diese restaurierte und digitale Fassung?
Günter A. Buchwald: „Dieser ‚Casanova‘ braucht ein großes Orchester – und ich fast drei Jahre, bis die Komposition vollendet war. Eine große Herausforderung für mich war die Länge des Films: 160 Minuten. Das sind zweimal 20 Minuten die neunte Sinfonie von Beethoven. Ich schuf also ein Gesamtkonzept, das meine 40 Jahre Stummfilmbegleiterfahrungen widerspiegelt: Farbenreiche Orchestrierung, Hörpausen zur Erholung von der Musik. Nie das ganze Orchester immer einsetzen, sondern auch Stellen mit Solo-Besetzung. Ganz wichtig: Bild und Musik sind gleichberechtigte Partner. Die Musik ist also nicht der dominierende Faktor. Das alles erreiche ich durch striktes musikalisches Arbeiten mit den gegebenen, komponierten Themen, aber unter ständigem Variieren und Anpassen an die filmische Aktion und Situation.“
Casanova war ein venezianischer Frauenheld. Passt die Filmerzählung von 1927 in die heutige Zeit mit ihrer #metoo-Bewegung?
Günter A. Buchwald: „Das ist immer mein erster Gedanke, wenn ich mich mit einem historischen Film beschäftige. Wie kommt ein Schriftsteller und Abenteurer aus dem 18. Jahrhundert, der Inbegriff des Frauenhelden ist, als historische Figur und als Filmheld aus dem Jahr 1927 beim heutigen Publikum an? Meine anfänglichen Ängste werden auch von Frauen nicht geteilt. Casanovas Memoiren sind Weltliteratur, die historische Figur war eine der gelehrtesten Persönlichkeiten Italiens, die durch Europa gezogen ist, in Frankreich gelebt hat und überall geschätzt wurde; natürlich auch die Leute geblendet hat. Er war auch Musiker, hat gegeigt und komponiert und traf unter anderem mit Mozart zusammen. Und er war ein Frauenheld, der aber den Frauen hilft, sie vor Vergewaltigern und bösen Männern rettet. Erst in der Schlussszene des Films kommt es zu einem Konflikt, wenn er plötzlich vor zwei Frauen steht.“
Sie bringen in ihrem neuen Orchesterwerk ganz kurz den Titelhelden mit James Bond in Verbindung.
Günter A. Buchwald: „Ja, aber nur vier Takte von 5500. Wie Le Figaro schreibt: ein Augenzwinkern. Casanova springt aus einer fahrenden Kutsche in den Schnee. Eine sekundenschnelle Szene im turbulenten Leben des Abenteurers Giacomo Casanova. Beide Helden stehen als Alpha und Omega der galanten Verführung. Es gibt noch viele andere sehr schöne Szenen, für die ich passende musikalische Zitate verwendet habe. An einer Stelle kurz auch die Marseillaise.“
Wie gingen Sie vor? Immerhin muss ihre Musik dem historischen Film gerecht werden und den Nerv des heutigen Publikums treffen.
Günther A. Buchwald: „Was mich gerettet hat, war die Casanova-Biografie aus den 1920er Jahren, an der sich auch die Filmfigur sehr stark orientiert hat. Sie ist sehr frei erzählt und schön ausgeschmückt. Ich studierte sein Leben, das geprägt ist von Liberté, Lebensfreude und den vielen Stationen, die jedes Mal musikalisch besondere Noten setzten. Zunächst war es mir sehr wichtig, eine große Klammer für die Filmmusik zu schreiben, weil der ganze Film unendlich viele Schnittstellen hat und changiert zwischen Tragödie und Komödie. Er rettet beispielsweise eine Frau aus den Klauen des Grafen von Bayreuth und Casanovas Helfer beißt den Grafen in den Hintern. Dann ist die dramatische Situation innerhalb von Sekunden schon wieder lustig. Die Musik darf nicht jeder Bewegung folgen, sondern muss Rahmen für die gesamte Handlung bilden. Deshalb waren drei Tableaus wichtig: einmal Venedig, einmal Österreich und einmal St. Petersburg. Ich recherchierte nach Musik über den Karneval in Venedig, stieß auf das leider im Deutschen verballhornte neapolitanische Lied ‚Mein Hut, der hat drei Ecken‘, im Original ‚Carnevale di Venezia‘. Paganini und tausend andere haben das als Thema benutzt. Ich verwende es in Moll. Aus dem Opera-Ballett ‚Le Carneval de Venice‘ von André Campras – spätes 17. Jahrhundert – habe ich einen Satz verwendet. Von Vivaldi haben ich ein Streicherwerk für Mandoline arrangiert. Für Österreich habe ich einen Zwiefachen komponiert. Für St. Petersburg habe ich mich von sämtlichen Tschaikowsky-Sinfonien inspirieren lassen, auch Mussorgsky, der selbst zitiert, fließt ein. Wenn Casanova mit der Kutsche nach Russland reist, kommt die Zarenhymne zusammen mit einem französischen Revolutionslied. Zu den Tableaus gehe ich auf die Action im Film ein. Der Virtuosität des Films muss eine Virtuosität der Musik gerecht werden.“
Wie charakterisieren Sie die Stummfilm-Ära?
Günter A. Buchwald: „Die Stummfilmzeit ist die Zeit, wo aus einer technischen Möglichkeit, Bewegung aufzuzeichnen, eine eigenständige Kunstform entwickelt wurde. Man spricht von ‚La Septième Art‘ mit unterschiedlichen, auch gesellschaftlich tradierten und kulturell verschiedenen Einflüssen und Entwicklungen. In Deutschland zum Beispiel von der Tradition des Schauspiels mit bekannten Schauspielern wie Bassermann oder Kortner bis hin zum Nicht-Schauspielern etwa in ‚Menschen am Sonntag‘. Alles war möglich. Der unterentwickelten Technik stand ein gehöriges Maß an Kreativität zur Seite.“
Allgemein befürchten Konzertveranstalter beim Blick auf den Kartenverkauf, dass ihr treues Publikum ausstirbt. Auch die Kinos stecken weltweit in einer Krise. Finden Stummfilmkonzerte noch zum Publikum?
Günter A. Buchwald: „Ganz wichtig ist eine kontinuierliche Arbeit. Ich bin kein Freund von Events – da machen wir mal was und dann ist es wieder vergessen. Das schafft kein Publikum mit tieferem Interesse. In Freiburg bringen wir seit 40 Jahren Highlights und völlig unbekannte Stummfilme. In den großen Filmtheatern müssen wir ein größeres Publikum befriedigen. Chaplin geht da immer. In den Kommunalen Kinos müssen die historisch wichtigen Filme gezeigt werden, wo man die Entwicklung der Filmkunst sehen kann. Musikalisch gibt es verschiedene Richtungen. Die historisch Interessierten wollen nur die alte Musik zum Film aufgeführt haben und es gibt den DJ, der den Film mit seiner Musik unterlegt, immer im Bestreben, ein Publikum zu finden. Das ist legitim. Wir müssen den Menschen Programme anbieten und durch Qualität werben und begeistern. Es kommt auch auf die Auswahl der gezeigten Filme an. Bei Stummfilmen ist es wie bei allen historischen Hinterlassenschaften. Das Erbe beinhaltet historisch Veraltetes, politisch Fragwürdiges, aber auch zeitlos Aktuelles, zeitlos Modernes, künstlerisch absolut Wertvolles.“
Wie steht es um die Zunft der Stummfilmmusiker?
Günter A. Buchwald: „Der Nachwuchs steht in den Startlöchern. 1978, zu Beginn meiner Stummfilmtätigkeit, kannte ich nur vier Kollegen. Heute wird schon von den ‚magnificent seven‘ beim Stummfilmfestival im italienischen Pordenone gesprochen. Und wir sind schon gut 30 Hauptberufliche weltweit. Es gibt heute auf der ganzen Welt keinen Tag mehr, an dem nicht irgendwo ein Stummfilm gezeigt wird.“