SIGRUN KÖHLER UND WILTRUD BAIER
Ehrenfilmpreisträgerinnen 2023
Produktionsfirma Boeller und Brot
Die beiden Autorinnen und Dokumentarfilmerinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier, die seit 2000 mit ihrer Produktionsfirma Böller und Brot freie, kompromisslose und künstlerische Filmarbeiten wie ‚Narren‘, ‚Alarm am Hauptbahnhof‘ oder ‚Wer hat Angst vor Sibylle Berg‘ hergestellt haben, werden mit dem diesjährigen Baden-Württembergischen Ehrenfilmpreis ausgezeichnet.
Der undotierte Preis wird bei der 29. Filmschau Baden-Württemberg im Rahmen der Preisverleihung am Sonntag, 10. Dezember 2023, in der Dürnitz Kulturlounge im Alten Schloss in Stuttgart vergeben. Mit der Auszeichnung werden Menschen geehrt, die den Medien- und Filmstandort Baden-Württemberg mitgestalten, durch ihre Arbeit nachhaltig unterstützen und einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung des Standortes auch über die Landesgrenzen hinaus leisten.
Sigrun Köhler aus Schwäbisch Hall und Wiltrud Baier, in Erlangen geboren, sind zwei kreative Köpfe der baden-württembergischen Filmbranche, die mit ihren couragierten und humorvollen Dokumentarfilmen den Medienstandort bereichern und auf wichtigen Filmfestivals Preise und Ehrungen sammeln. So wurde ihr Stuttgart 21-Dokumentarfilm ‚Alarm am Hauptbahnhof‘ 2012 mit dem Grimmepreis ausgezeichnet. ‚How Time Flies‘ gewann sehr viele internationale Filmpreise und hat es bis nach Cannes geschafft (Semaine de la critique 2001).
Die beiden Absolventinnen der Filmakademie Baden-Württemberg haben ihren Arbeitsmittelpunkt in Stuttgart und geben mit ihren künstlerisch besonders wertvollen Dokumentarfilmen Land und Leuten ein Gesicht. Mit ihrer unverwechselbaren Herangehensweise an ein Thema, ihrem erfrischenden Humor, ihrer präzisen Beobachtungsgabe und ihrem experimentellen Erzählstil schaffen sie herausragende Studien und Porträts. In ihren bisherigen Werken thematisierten sie Zeit (‚How Time Flies‘, 2000), Geld (‚Schotter wie Heu‘, 2002), Glaube (‚Der große Navigator‘, 2007), Macht (‚Alarm am Hauptbahnhof‘, 2011), Ruhm und Reichtum (‚Where‘s the Beer and when do we get paid?‘, 2012), Dichtung und Wahrheit (‚Wer hat Angst vor Sibylle Berg‘, 2015) sowie Dabei sein/Masse und Individuum (‚Narren‘, 2021).
Nach einer Ausbildung zur Konditorin in einem Münchner Café studierte Wiltrud Baier an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sigrun Köhler hatte sich dort mit Daumenkinos beworben, in Ludwigsburg studierte sie Kamera und Dokumentarfilm, suchte für ihren Diplomfilm eine Kamerafrau und vertraute der experimentierfreudigen Wiltrud Baier.
Wiltrud Baier machte 1999 ihr Diplom im Fachbereich Animation. So begann ihre wundervolle Karriere. Ihre sieben Kinofilme bezeichnen sie als „futureproof“, also zeitlose Filme, die besonders nachhaltig sind, weil man sie immer wieder gerne alleine oder gemeinsam mit Freuden anschaut. Gefördert durch Stipendien wurden Böller und Brot von der Akademie Schloss Solitude, Deveron Projects (Huntly, Schottland), Kunststiftung Baden-Württemberg, Cite internationale des Arts Paris und Atelierstipendium der Stadt Stuttgart. 2004 realisierten Böller und Brot auf der Akademie Schloß Solitude das 1. Internationale Daumenkinofestival, ein großes Filmfestival für kleine Daumenkinos.
„Wichtig für die Zusammenarbeit, wir haben einen ähnlichen Sinn für Humor.“
Ehrenpreisträgerinnen Wiltrud Baier und Sigrun Köhler im Gespräch mit Hans-Peter Jahn für den Katalog zur 29. Filmschau Baden-Württemberg 2023
Zunächst herzlichen Glückwunsch zum diesjährigen Baden-Württembergischen Ehrenfilmpreis.
Wiltrud und Sigrun: „Wir freuen uns wirklich sehr, welch eine Ehre!“
Wie charakterisiert ihr euch gegenseitig?
Sigrun: „Wir haben uns beim Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg kennengelernt. Wiltrud hat damals Witze fürs Kinderprogramm geschrieben und Animationsfilm studiert. Ich war auf der Suche nach einer Kameraperson für meinen Abschluss-Dokumentarfilm.“
Wiltrud: „Sigrun hat niemanden gefunden und musste mich nehmen.“
Sigrun: „Wiltrud hatte noch keine Dokumentarfilme gemacht, aber sie hatte ein unglaubliches Gespür für Geschichten, versteht Menschen und Emotionen. Damals fing es an mit digitalen Schnittprogrammen, das wollten wir unbedingt ausprobieren. Was mich immer noch erstaunt, Wiltrud kann mit dokumentarischem Material so filmisch erzählen, dass die Montage wie selbstverständlich wirkt.“
Wiltrud: „Mich hat die Kameraarbeit von Sigrun sehr beeindruckt. Oft geht es mir so, dass wir beim Dreh sind, es passiert etwas und ich denken, na, das war ja ganz interessant. Dann sehe ich die Szene von Sigrun gefilmt und plötzlich ist alles wie verzaubert durch den Blick, den Ausschnitt, Lichteinfall, Focus, durch ihre Bildgestaltung wird der Inhalt klarer oder bekommt noch eine andere Dimension. Wir machen beide Kamera, aber ich kann Bewegung nicht so gut, ich bin eher ein lebendes Stativ.“
Wiltrud und Sigrun: „Wichtig für die Zusammenarbeit, wir haben einen ähnlichen Sinn für Humor.“
Ist Stuttgart eine gute Homebase für Dokumentarfilmerinnen?
Sigrun: „Ja und nein. Man muss zuweilen raus aus dem Kessel, um den Überblick zu behalten.“
Was macht ein Thema/eine Story für euch filmenswert?
Wiltrud: „Wir behaupten: Wenn uns ein Thema beide interessiert, dann ist es filmenswert – also, wenn es mehr als nur eine von uns interessiert. Tatsächlich sind die Themen, die uns interessieren aber immer große Themen, Zeit, Geld, Glaube usw.“
Sigrun: „Die Frage ist eher, wie wir ein Thema erzählen können, da wir dokumentarisch arbeiten: Was wir in der Realität beobachten können und wie wir darin eine allgemein gültige Geschichte finden können.“
In Erinnerung blieb mir eine Begebenheit aus ‚Narren‘, als ein Herr, der die kleine Kamera sah, fragte, ob dies eine Damenkamera sei. Haben es Dokumentarfilmerinnen immer noch schwerer als ihre männlichen Kollegen? Was muss sich ändern?
Wiltrud: „Eine sehr schöne Szene am Anfang des Films, wir und die kleine Kamera für Frauen. Es geht in dieser kleinen Szene aber um mehr als nur dieses herablassendes Frauenbild, da ist ja auch sehr viel weibliches Selbstbewusstsein drin: Schaut mal her, zwei Frauen mit einer kleinen Kamera schaffen es dann doch, große Bilder zu machen und damit einen ganzen Film zu erzählen, der ins Kino kommt und im Fernsehen gute Quoten hat.“
Sigrun: „Zunehmend gilt als Wert eines Filmes das ‚Production Value‘, große Kamera, großes Gerät, teuer, Hochglanz – wenn das im Umkehrschluss als ‘männlich’ verstanden wird, dann brauchen wir ganz dringend mehr kleine Kameras für Männer und Frauen für erzählerische Vielfalt und künstlerische Freiheit. Denn: Eine gute Kameraperson kann mit jeder Kamera gute Bilder machen. Und schlecht erzählte Geschichten können mit Produktion Value aufgepumpt werden, bleiben aber trotzdem schlecht erzählte Geschichten.“
Welche Gründe waren für euch ausschlaggebend, als freie Autorinnen/Dokumentarfilmerinnen/Produzentinnen zu arbeiten?
Wiltrud: „Die Teilung in künstlerisch-kreative Arbeit und produzentisch-betriebswirtschaftliche Arbeit ist nicht so verkehrt, denn man braucht unterschiedliche Talente. Wenn diese beide gleichberechtigt zusammenarbeiten wäre es genial.“
Sigrun: „Es gibt und gab da aber schon immer Probleme, dieses Ringen um Film als Kunstwerk und Film als Ware. Und es gibt viele Anekdoten, wie Regisseur*innen in der Filmgeschichte versucht haben, die künstlerische Gestaltung der Filme nicht an Produzenten oder Marketing zu verlieren. Dokumentarisches Arbeiten war traditionell weniger eine Ware, war immer sehr von Handschrift und Blick der Filmautor*innen geprägt. Da bietet sich an, seine eigene Produzentin zu sein – man arbeitet mit überschaubaren Budgets und versucht halbwegs davon zu leben.“
Wiltrud: „Aber wir träumen noch immer von einer glücklichen Zusammenarbeit mit Produzent*innen.“
Wie hat sich nach eurer Auffassung der Film- und Medienstandort in den zurückliegenden Jahren verändert?
Wiltrud: Wir hatten immer Lust, neue Sachen auszuprobieren und nicht die nahe liegenden Wege zu gehen. Nach der Filmakademie wandern die meisten Absolventen wie in einer Karawane Richtung Berlin. Wir dachten, das machen wir doch mal anderes als die anderen, wir bleiben mal hier und arbeiten ungestört. Wir hatten tatsächlich die Hoffnung, dass sich hier so ein Dokumentarfilm-Bewegung entwickeln könnte, eine Art neue Stuttgarter Schule. Leider war der Sender am Standort bisher noch nicht davon zu überzeugen. Erfolgreiche Medienstandorte (klassisch Hollywood in L.A.) habe eines gemeinsam: Leute gehen dort hin, weil es da Perspektiven und Hoffnung gibt, auf eine Karriere oder zumindest Arbeit im Filmbereich.“
Sigrun: „Und immer wenn wir dachten, der Standort ist dann doch zu wenig filmfreundlich, dann kam irgendwas um die Ecke, was uns wieder festgehalten hat.“
Wiltrud: „Es gibt hier eine großartige Filmförderung MFG, es gibt interessante Orte, wie den Kunstverein Wagenhallen, das kulturbegeisterte Kulturamt der Stadt, es gibt herrliche Schrebergärten genannt Stückle, sogar ein Haus des Dokumentarfilms und der/die ein oder andere wunderbare Kolleg*in, die auch hier geblieben ist.“
Natürlich darf die Frage nach dem nächsten Filmthema nicht fehlen und gibt es eine Geschichte, die ihr unbedingt filmisch aufgreifen wollt?
Sigrun: „Wir arbeiten gerade an einem Film zum Thema Natur und Kultur. Wir lieben Apfelbäume und konnten ein Stückle mit ein paar Obstbäumen pachten. Aber Apfelbäume sind Kulturpflanzen, die Pflege und Zuwendung brauchen. Wir mussten feststellen, dass wir überhaupt keine Ahnung haben.“
Wiltrud: „Dann haben wir zum Glück Luise kennengelernt, sie ist eine Art „Baum-Flüsterin“, eine Koryphäe des Obstbaumschnittes. Sie versteht Wachsen und Gedeihen der Bäume und obwohl sie schon 77 Jahre alt ist, steigt sie wie eine Hochleistungssportlerin in die höchsten Apfelbäume. Sie fährt herum und hilft allen verzweifelten Bäumen und Baumbesitzer:innen in der Region.
Wir fanden das beide sehr interessant.“
Weiterhin viel Erfolg und Dankeschön.
FILME VON BÖLLER UND BROT:
2001: ‘How Time Flies’.
2003: ‘Schotter wie Heu’
2007: Homemades
2007: ‘Der große Navigator’
2011: ‘Alarm am Hauptbahnhof – Auf den Straßen von Stuttgart 21’
2013: ‘Where’s the Beer and When Do We Get Paid?’
2015: ‘Wer hat Angst vor Sibylle Berg?’
2019/21: ‘Narren’
BÖLLER UND BROT ANEKDOTISCH
Wiltrud zum Hintergrund für den Namen Böller & Brot: „Ich mochte schon immer Sprengungen. Explosionen, gefilmt in Slow Motion. Diese elektrisierende Mischung von Zerstörung und Ästhetik. Volker Engel, später Oscar-Gewinner für Spezialeffekte, hat mir übrigens für meine erste Regieübung an der Filmakademie ein Telefon in die Luft gesprengt. Aber das ist eine andere Geschichte. Für den Namen hat uns dieser Aufruf an Silvester ‚Brot statt Böller’ inspiriert. Wir wollen – im Übertragenen Sinn – für unsere Filmarbeit beides, Spaß und Ernst, Licht und Schatten: Böller UND Brot.“
Wiltrud Baier in einem Interview der Filmakademie Baden-Württemberg
„Vor den Dreharbeiten hat Sibylle gesagt: „Aber bitte nichts über meine Biografie!“ Was uns natürlich schon erstaunt hat, denn das wäre doch gerade das Spannende. Und dann meinten wir, sie soll uns doch stattdessen einfach schöne Lügengeschichten erzählen.“ „Und wir dachten immer, das sei alles komplett erstunken und erlogen. Erst langsam kam uns der Verdacht, dass vieles vielleicht wahr sein könnte.“
Sigrun Köhler und Wiltrud Baier in einem Intervier mit den Stuttgarter Nachrichten zu ‘Wer hat Angst vor Sibylle Berg?“
„Ein langer Kinofilm beschäftigt uns zwischen zwei und fünf Jahre. In dieser Zeit häufen sich Dinge an. Objekte, Ordner mit Transkripten, Recherchematerial, Notizen, Pläne, Absagen, Glückwünsche, Geschenke von Protagonisten oder vom Publikum. Für jeden Film gibt es eine große Kiste, in der wir alles sammeln. Im Juni 2013 haben wir alle unsere Kisten geöffnet, und eine kleine Auswahl des kuriosen Inhalts in der Stuttgarter Galerie AK2 in Vitrinen ausgestellt. Sehen konnte man die Schuhe, die Wiltrud bei der ‘Schotter wie Heu’-Premiere getragen hat, die original Opa Köhler Fliegenklatsche aus ‘How Time Flies’, Absagen von Steven Hawking und Hans-Georg Gadamer, Kastanien aus ‘Alar,m am Hauptbahnhof’, einen dürren Kaktus für einen geplanten Western,.“
aus ‘Böller-und-Brot-Universum’